Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident
Das Internet kann als ein dynamisches System begriffen werden. Für solche Systeme unterschieden Mathematiker bislang drei Verhaltensklassen: Gleichbleibend, periodisch und chaotisch. Die Komplexitätsforschung entdeckte eine vierte Verhaltensklasse, die sie als "Am Rande des Chaos" bezeichnete.
Die Klasse des "Am Rande des Chaos" ist weder gleichbleibend, periodisch, noch chaotisch, obwohl sie Eigenschaften von allen Dreien beinhaltet. Sie ist einerseits bedroht, ins Chaos umzukippen, andererseits wirken selbstregulierende Kräfte, sodass dies eben nicht geschieht.
"Am Rande des Chaos" ist ein Zustand der höchsten Informationsverarbeitung, ein Zustand höchster Lebendigkeit. Die Natur und unser Körper funktionieren auf diese Weise: Ein unaufhörliches Selbstregulieren, um sich den ebenso unaufhörlich verändernden Bedingungen anzupassen. Wir finden hier auch das Prinzip des Universellen Computers, das Prinzip aller möglichen Computer.
Ebenso ist dem Internet diese Verhaltensklasse zuzuordnen. Sehr viele Rechner sind hier bekannterweise als Server oder Clients zu Netzwerken verbunden und an das "Netz der Netze" angeschlossen. Clients wählen sich ein und werden damit ein Teil des Internets, oder sie trennen die Verbindung wieder. Ebenso werden Server mit dem Internet verbunden oder von ihm getrennt. All das geschieht unaufhörlich und das Internet wandelt sich fortwährend.
Die einzelnen Rechner werden dabei in ihren Funktionen und Inhalten individuell bedient, ohne dass die vielen global verteilten Nutzer und Administratoren voneinander wissen, und ohne dass sie - abgesehen von bislang neutralen technischen Grundlagen - von einer zentralen Instanz gelenkt werden. Bemerkenswerterweise funktioniert das Internet in der Summe.
Das Internet organisiert sich selbst.
Die Komplexitätstheorie hat für solche sich selbst organisierenden Systeme das Bild der "Emergenz" geschaffen:
"Das Teil beeinflußt das Ganze, das Ganze beeinflußt das Teil."
Im "Emergent Collective" ist hier das Internet als Ganzes, in den "Individuals" die vielen einzelnen Server und Clients, bzw. Nutzer zu sehen. Die Nutzer (Server und Clients) beeinflußen sowohl sich gegenseitig, als auch das Internet als Ganzes. Das Internet als Ganzes wiederum übt Einfluß auf das Verhalten der einzelnen Nutzer aus. Neue Techniken, Gedanken oder Erkenntnisse pflanzen sich auf diese Weise im Internet fort und breiten aus - oder eben auch nicht, jenachdem.
Restriktive Eingriffe von Außen, wie sie die regulierende Gesetzgebung und die TCPA-Technologien darstellen, bewegen das System des Internets in Richtung zu mehr Gleichförmigkeit und Statik. Der Grad der Informationsverarbeitung wird hierdurch verringert. Und damit verringert sich auch der Nutzen, den wir aus dem Internet beziehen können.
Im Internet wird ausgiebig und vielfältig diskutiert. Da findet eine enorme Kommunikation statt. Aus ihr entwickeln sich fließend 'Normen' für das, was im Internet als 'gut' oder 'nicht gut' gilt, und zwar _innerhalb_ des Internets. Es ist seitens des Gesetzgebers eine Illusion, zu glauben, er könne von Außen irgendetwas besser regeln.
" Komplexe, adaptive Systeme, die einem gemeinsamen Evolutionsprozeß unterworfen sind, pendeln sich in einem Zustand maximaler Informationsverarbeitung, maximaler Fitneß, maximaler Evolutionsfähigkeit ein. "
Roger Lewin, "Die Komplexitätstheorie"
" Ich glaube, daß Selbstorganisation eine natürliche Eigenschaft komplexer Systeme ist. In der Natur gibt es Ordnung 'umsonst', ... ohne daß es einer äußerlichen Kraft bedarf. "
Stuart Kauffmann, Komplexitätsforscher
" Aus meiner Sicht ist die übergeordnete Regierungsstruktur des Internet dezentral organisiert, eine "von-unten-nach-oben-Regierung". Das läßt natürlich sehr wenig Kontrolle von oben nach unten zu. Dies ist also ein fester Bestandteil des Internetdesigns. "
Lawrence Lessig, Verfassungsrechtler und Cyberlaw-Experte, Harvard Universität
Eine vom Internet losgelöste Diskussion - z.B. in Parlamenten -, und eine daraus folgende, ebenfalls vom Internet losgelöste, aber das Internet im Inneren betreffende Gesetzgebung, sind daher abzulehnen. Sie werden den neuen Möglichkeiten nicht gerecht. Politiker sind sich in Fragen des Internets häufig gar nicht bewußt, worüber sie da eigentlich entscheiden.
" Vielleicht müssen wir im Internet-Zeitalter eine andere Form finden als die repräsentative Demokratie, die für die letzten 300 Jahre getaugt hat - eine neue Balance zwischen Staat und Protest, Machtzentren und lokalen Gemeinschaften. Dazu braucht es Phantasie. "
Umberto Eco, Schriftsteller, 2001
Im Vergleich zu den bislang bekannten zivilisatorischen Organisationsformen ist das Internet geradezu dafür prädestiniert, sich selbst zu organisieren. Es ermöglicht eine effektive globale Information und Kommunikation, ohne daß Menschen sich hierfür auf einen gemeinsamen Ort oder eine gemeinsame Zeit einigen müßten. Mit dieser Effektivität werden häufig schwerfällige Parlamente und in Gesetzen festgeschriebene, und damit starre Verhaltensnormen kaum mithalten können.
Politiker und Regierungen können jedoch Einfluß auf das Internet ausüben, indem sie sich selbst an seinen Foren und Diskussionen beteiligen, indem sie selbst Webseiten ins Netz stellen.
Die neuen Freiheiten gelten für Alle.
Das System des Internets muß sich "Am Rande des Chaos" befinden. Es muß sich selbst regulieren (können). Eingriffe von Außen dürfen nur erfolgen, insoweit sie zum reinen technischen Funktionieren unverzichtbar erforderlich sind.
Literatur:
Roger Lewin, Die Komplexitätstheorie - Wissenschaft nach der Chaosforschung
Link:
Complexity and emergence, an interview with Chris Langton from the Santa Fe Institute
→ www.bendov.info/eng/langton.htm
" Ich glaub, es ist die revolutionärste Entwicklung, der dramatischste Schritt, seit das Leben einstmals vom Wasser auf das Land gewandert ist. Internet bedeutet die Abwesenheit von Kontrolle über das ganze System als einzige Möglichkeit das System aufrechtzuerhalten. ...
Der einzige Weg, das Netz als Ganzes aufrecht zu erhalten, ist die Dezentralisierung der Kontrolle. Ich denke, das Internet zwingt zur Dezentralisierung und deshalb sehe ich die Welt im 21. Jahrhundert eher auf ein anarchistisches als auf ein faschistisches System zusteuern. Ich meine kein total anarchistisches Chaos, aber eher in diese Richtung, als zu einem Faschismus der Kontrolle und der strikten Hierarchien. "
Robert Anton Wilson, Wissenschaftsphilosoph
Personal Computer und Internet sind - zusammenfassend - bislang i.w. gekennzeichnet durch
Das sind i.w. die Gründe für den bisherigen Erfolg des Personal Computers und das explosionsartig rasante Wachstum des Internets. Unter diesen freiheitlichen Bedingungen konnte sich der Geist vielfältig entfalten.
Genau deswegen müssen diese Freiheiten erhalten bleiben.
Es ist falsch, die aus der Realität gewohnten Ordnungen und Denkschemen auf das Internet zu übertragen.
Zum Einen ist die Realität begrenzt. Wir benötigen daher Ordnungen, um innerhalb ihrer Grenzen miteinander klar zu kommen.
Die digitale Virtualität ist jedoch tendenziell unbegrenzt. Jeder kann sich in ihr frei entfalten, ohne deswegen einem Anderem 'Platz' weg zu nehmen. Wir benötigen in ihr - abgesehen von technischen Notwendigkeiten - keine vorgegebenden Ordnungen.
Zum Anderen stammen die aus der Realität bekannten Ordnungen i.w. aus einer Zeit, in der es die digitale Virtualität noch nicht gab. Diese Ordnungen berücksichtigen daher nicht die Potentiale des Computers und des Internets. Sie dennoch darauf anzuwenden, kann letztlich nicht funktionieren.
Informationen beeinflußen unser Denken; unser Denken bestimmt unser Handeln.
Genau hier besitzt das Internet ein ungeheures Potential. Jeder ist zugleich Sender und Empfänger. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es sich positiv auf unsere weitere Evolution auswirken wird - wenn man es denn zuläßt und nicht versucht, es von Außen künstlich zu regulieren.
Das Internet wird vielmehr aus sich selbst heraus eine ihm innewohnende Ordnung entwickeln, und hat dies bereits schon getan - siehe oben. Sein explosionsartiges Wachstum erfolgte global und kulturübergreifend, und ohne zentrale Lenkung oder dominierenden Eingriff eines Konzerns oder Staates. Es waren und sind Viele beteiligt.
Darüberhinaus kann das Internet über die Information und Kommunikation, die es ermöglicht, auf unsere realen Ordnungen wirken und sie verändern - zum Positiven.
In unseren Gedanken und Träumen sind wir Menschen seit jeher frei. Das Internet macht sie nun global und binnen kürzester Zeit gegenseitig mitteilbar. Das ist eine seiner entscheidenen neuen Qualitäten.
Was daraus entstehen mag, ist ungewiss. Diese Ungewissheit und die 'Unendlichkeit' der Virtualität mögen Angst erzeugen und erschrecken. Aber wir werden lernen, damit umzugehen.
Wir werden wachsen.
Es ist falsch, die neuen informationellen Freiheiten und ihre Potentiale auf dem Altar der monetären Interessen oder einem kleinlichen Kontroll-, Überwachungs- und Sicherheitswahn zu opfern.
So sollten auch die vielen in jüngster Zeit erlassenen Gesetze zur Regelung und Überwachung des Internets wieder zurückgenommen werden. "Terrorismus", "Cybercrime", "Rechtsextremismus" u.a. erscheinen nur vorgeschoben. Der Urgrund für die beschränkende Gesetzesflut dürfte eher in einer diffusen Angst vor dem Unbekannten liegen - einer Angst der Mächtigen vor den neuen Möglichkeiten, die nun _jeder_ hat bzw. haben könnte, und einer Angst der Ohnmächtigen vor der ungewohnten Freiheit.
Doch Angst ist kein guter Ratgeber. Wir sind keine Feinde. Wir leben auf demselben Planeten. Das Internet kann helfen, dies zu erkennen.
Eine erhöhte 'Sicherheit', eine Begrenzung des Informationsflusses, führt naturgemäß zu weniger Wissen. Diese Unwissenheit läßt Raum für Glauben und Spekulation. Und dies führt letztlich zu 'Unsicherheit' und 'Unvertrauen'.
Paradoxerweise erhöhen also zunehmende Sicherheitsmaßnahmen die Unsicherheit. Je mehr Sicherheit eingeführt wird, desto starrer und statischer wird das System, desto weniger fließen die Informationen, desto weniger wissen die Beteiligten:
" Ich traue niemandem. Nicht einmal mir selbst! "
Josef Stalin, russischer Diktator
Wenn aber etwas transparent und einsehbar ist, dann ist es auch verstehbar. Und wenn ich etwas verstehe, dann kann ich damit umgehen. Ich brauche keine Angst mehr davor zu haben. Und erst wenn ich keine Angst mehr habe, kann ich "vertrauen".
Ein freier und transparenter Fluß der Informationen kann uns unsere Angst nehmen, uns zu neuen Erkenntnissen führen und uns damit "Vertrauen" und "Sicherheit" geben.
" Intelligenz ist die Fähigkeit, Informationen zu empfangen, zu entschlüsseln und brauchbar weiterzuvermitteln. Dummheit ist die Unterbrechung dieses Prozesses an einem beliebigen Punkt. Und die Unterbrechungen sind die Regel. "
Robert Anton Wilson, "Der neue Prometheus"
" Es ist ganz sicher hier draußen! "
" Oh Mami, bring mich nach Hause! "
(nach Wilson)
Ganz allgemein betrachtet schwankt unser Verhalten zwischem einem neugierigen forschenden vertrauensvollen Vordringen - z.B. Mondlandung -, und einem ängstlichen, das Neue vermeidenden furchtsamen Rückzug - z.B. Festhalten am geozentrischen Weltbild im ausklingenden Mittelalter.
In den letzteren Bereich sind die derzeitigen Sicherheits- und Kontrollbemühungen einzuordnen. Fortschritt soll aufgehalten, bzw. rückgängig gemacht werden. Microsoft: "Wir müssen auf der Zeitschiene zurück ...". Die Alte Welt möchte ihre Wertvorstellungen in die Neue Welt hinüberretten.
Aber wie wir wissen, hat dies bislang noch nie funktioniert. Das Heliozentrische Weltbild (Kopernikus, Galilei) hat sich gegenüber dem Geozentrischen ebenso durchgesetzt, wie sich die durch die Erfindung des Buchdrucks (Gutenberg) ermöglichten Freiheiten durchsetzten. Anfänglich gab es Inquisition und Zensur, später wurden Meinungs- und Pressefreiheit im Grundgesetz verankert. Der Geist hat nicht eher Ruhe gegeben, als bis das Machbare möglich wurde.
Solche Entwicklungsstufen waren und sind letztlich immer mit einem Zuwachs an Wissen und Erkenntnis, an Freiheit und Selbstverantwortung verbunden. Renaissence, Reformation und Humanismus überwanden das mittelalterliche Weltbild und überholte Gesellschaftsordnungen.
Heute leben wir in vergleichbaren Zeiten. Unsere derzeitigen globalen Probleme, wie klimatische Veränderungen, Überbevölkerung, soziale und materielle Ungerechtigkeiten, Mangel an Bildung und Wissen u.a., sind nicht zu übersehen. Wir werden sie nicht lösen können, indem wir in Bereiche zurückgehen oder verharren, aus denen heraus sie entstanden sind. Das wird unsere Probleme lediglich verstärken.
Wir können nur vorwärts gehen. Und hierbei kann das Internet hilfreich zur Seite stehen. Es ermöglicht die lokale, regionale und globale Kommunikation und Koordination, die effektive Verbreitung von Wissen, die gegenseitige Anregung und Korrektur in unseren Handlungen und vieles mehr. Wir stehen da erst am Anfang. In jedem Fall muß ein globaler und freier Informationsfluß gewährleistet sein. Die technischen Möglichkeiten hierfür sind vorhanden. Sie dürfen nicht eingeschränkt werden.
So gesehen kann die globale Freiheit des Internets durchaus eine Überlebensfrage für uns Menschen auf diesem Planeten sein, oder - weniger dramatisch formuliert - es kann dazu beitragen, die Lebensbedingungen für uns alle zu verbessern.
Wenn das Potential des Internets eine Chance haben soll, dann müssen sich Gedanken und Ideen frei enthalten können. Und das wird nur in einem vielfältigen, bunten, nicht kontrollierten, dezentralen und 'unsicheren' Internet der Fall sein.
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